Sind wir freundlicher auf Yogamatten?

Kürzlich las ich in den Medien einen Bericht eines Ausflugrestaurants, welches auf Selbstbedienung umgestellt hat und dies aus Schutz für ihre Mitarbeiter. Wegen Personalmangel wurden die Ressourcen knapp. Daher konnten die Mitarbeiter nicht mehr den gewünschten Service leisten und mussten als Konsequenz mit Beschimpfungen umgehen.

Ein trauriges Kapitel in der Schweizer Gastroszene, doch leider Realität.

In vielen Betrieben fehlen Mitarbeiter. Immer mehr Arbeit muss eine Person allein verrichten. Was jedoch zunimmt, sind die Ansprüche – was abnahm, ist unteranderem die Toleranz der Gäste. Dieses Phänomen beobachtet man überall. Ein Paradebeispiel ist die Strasse. Immer mehr Verkehr aller Art und weniger Verständnis und Rücksicht. Manchmal kommt es einem vor, jeder sei in seinem eigenen Film und möchte sein «Sein» verwirklichen. Man fährt zum Yoga, beschwert sich aber dann beim Kaffee hinterher über die zu lange Wartezeit. Oder so ähnlich.

Letzte Woche war ich auf der Notfallaufnahme des Kinderspitals. Nein es war nicht so, dass ich dies wollte und darum auch vorher den Hausarzt aufsuchte. Doch es ging dann doch nicht anders und ich musste wieder einmal den Weg in die Notfallabteilung um 16 Uhr abends machen. Sehr spannend, wie man dort nur zu gut beobachten kann, wie sich jeder für die oder den Wichtigsten anschaut. Die Toleranz gegenüber Mitmenschen und Wartezeiten ist zum Teil sehr klein geworden. Jeder scheint sich am nächsten zu sein. Auch etwa so im Warteraum. Es scheint total egal zu sein, wie laut man telefoniert, als ob es jeden interessieren würde, welche Meetings leider nicht besucht werden können, weil es einfach unglaublich mühsam sei, jetzt hier im Kinderspital mit seinem Kind zu warten.

Aber zurück zur Gastfreundschaft und den Fall mit dem Ausflugrestaurant. Wenn man lieber auf Selfservice umstellt, um damit seine noch verbliebenen Mitarbeiter vor Beleidigungen der Kunden zu schützen, weil diese mit Überstunden schon unglaublich viel leisten und dies in einem Land, in dem man eigentlich alles hat und es an nichts fehlt, dann ist es höchste Zeit, dass sich eine Gesellschaft Gedanken macht, oder nicht? Man könnte jetzt den Ansatz verfolgen, dass man alles über den Lohn regelt. Mehr Lohn löst jedoch einen Rattenschwanz aus, dessen man sich vielleicht auch nicht immer so bewusst ist. Denn mit mehr Lohn müsste man folglich erwarten, dass Mitarbeiter die Resilienz mitbringen, um alle Beleidigungen nebst der körperlichen Arbeitsbelastung auszuhalten. Dass die Mitarbeiter an der Front schon fast halbe Psychologen sind, um auf alle Allüren der Gäste einzugehen und deren Befindlichkeiten entsprechend aufzufangen und zudem fachlich über alles Bescheid wissen, immer die gewünschte Sprache bereithalten (von russisch bis hin zu japanisch), wird oftmals nicht wertgeschätzt und ist man anscheinend auch nicht bereit zu bezahlen! Und nicht zuletzt sollte aber das Glas Hahnenwasser sicher auch nichts kosten.

Dann sucht man nach Lösungen, denn diesen Service können wir leider kaum mehr mit den vorhandenen Ressourcen an Mitarbeitern bieten. Wir sind gezwungen, auf Selbstbedienung umzustellen, um unseren Kunden noch die Möglichkeit zur Verpflegung und einem Erlebnis zu geben – und dann? Wieder böse und unverständliche Worte. So, und jetzt meine ich, liebe Gesellschaft, was wollen wir eigentlich noch alles?

Ich mache mich seit langem stark für gute und zuvorkommende Gastfreundschaft. Ich feile gerne mit meinen Kunden, sprich Gastronomen, an der Dienstleistung. Ich bin überzeugt, dass vielerorts noch genügend Potential in Sachen Dienstleistung und Herzlichkeit schlummert, jedoch nur bis zu einem gewissen Punkt. Denn irgendwo hat alles seinen Preis und alles nur in einem gesunden Mass! Und dazu gehören leider auch die End-Kunden oder besser gesagt, unsere Gesellschaft, und das Bewusstsein, dass Menschen an der Front keine Roboter sind.

Dass diese Menschen ebenfalls Respekt verdienen. Dass diese Menschen nicht nur Tellerträger sind oder etwas verkaufen, sondern dahinter grosses Wissen und eine Vorbereitung stehen. Und dass der Unternehmer oder Gastronom, der die Löhne bezahlt, Aufwände hat, die weitaus grösser sind als nur ein Bierglas, ein Tisch und ein Stuhl.

Ein Gastronom oder Lebensmittelverkäufer hat auch eine Verantwortung. Eine Verantwortung im gesundheitlichen Bereich. Niemand möchte schlechte Ware auf dem Teller oder im Glas. Niemand möchte eine Lebensmittelvergiftung. Niemand möchte Produkte essen, bei denen Tier und Mensch dafür leiden mussten. Wenn ich alles aufzählen würde, wäre die Liste viel zu lang.

Ich möchte nochmals die Frage stellen:

Was möchten wir noch?

Wohin möchten wir als Gesellschaft?

Ist es nicht an der Zeit, um über Transformation zu sprechen, alle sich in Retreats heilen lassen und an ihrer Persönlichkeit arbeiten, damit wir uns vielleicht doch einmal Gedanken über ein «Miteinander» machen und zwischendurch wieder aus der «Egoblase» rauskommen und weiter als nur für unser eigenes Wohl denken?

Wieder mehr Toleranz an den Tag legen und vielleicht, anstatt Selbstfindung zu machen, Selbststärkung oder Gesellschaftsfindung machen sollten? Denn sonst kommt der Tag x, an dem wir zwar volle Psychopraxen haben, aber die schönen Vorzüge des Lebens gar nicht mehr geniessen können, weil niemand mehr am Abend für uns arbeitet und wir kein Fest mehr in einer Gartenbeiz feiern können. Oder werden wir bald nur noch von Robotern gepflegt, weil niemand mehr bereit ist, diese Arbeit auf sich zu nehmen…

Aber anstelle einer Veränderung zugunsten der Gesellschaft sitzen wir weiter allein auf den Yogamatten in unserer Egoblase und suchen nach dem besseren Menschen in uns und hoffen, dass wir dann nach dem Herzinfarkt genügend Notfallfahrer haben, damit wir rechtzeitig auf dem OP-Tisch liegen und es beim Spitalaufenthalt einen netten Menschen gibt, der am Genesungsbett den Kaffee serviert…

Als Anmerkung: Ich möchte auf keinen Fall schlechten und unfreundlichen Service gutheissen. Es ist klar, dass es beide Seiten braucht. Doch vor allem braucht es wieder mehr Verständnis, weniger Perfektionismus in gewissen Bereichen und mehr Herzlichkeit. So kann die Toleranzgrenze auf allen Seiten und Ebenen wieder gesteigert werden.