Stefan Wiesner – ein Pionier

Stefan Wiesner – ein Pionier

Als ich zum ersten Mal vom «Hexer» hörte, war ich fasziniert. Ich wollte Ihn unbedingt treffen und der Frage nachgehen, was dieser spezielle Entlebucher vom Rössli in Escholzmatt, welches seit 33 Jahren in seinem Besitz ist – vorher bei seinen Eltern – antreibt und zu solch hoher Kochkunst bewegt.

Da Stefan Wiesner das Lehrlingsprojekt Wemotion von Marcel Blättler und Partnern unterstützt, hat er sich nach einem anstrengenden Drehtag mit den Jungen für ein Gespräch Zeit genommen. Und so stand ich in seinem Garten inmitten von ca. 60 Wildkräutern, Feuerringen und einem Tisch voll mit fröhlichen Gästen, die einen Kräuterkurs besuchten.

Er spricht nicht laut, doch mit einer klaren und herzlichen Stimme. Nicht mit viel Blingbling um seine Person, doch unglaublich geerdet und herzlich tritt er mir entgegen. Wenn man mit Stefan Wiesner, alias «Hexer», zu sprechen beginnt, spürt man seine grosse Demut der Natur und auch seinen Mitmenschen gegenüber. Kreativität entsteht ganz tief im Innern. Kreativität kommt von Innen. Und Kochen ist Kreativität auf der Basis eines Handwerks. So würde ich ihn und sein Wirken kurz umschreiben. Stefan, der von sich selbst sagt, er trage die Kunst in sich, ist Kunst in sich selbst. Doch nicht nur in einem Bereich. Stefan ist viel mehr als nur Kochen und viel mehr als nur Kunst oder Gastgeber. Was er tut, hat einen Kreislauf, es muss ganzheitlich sein.
Es bringe nichts, wenn man wisse, wie eine Grundzubereitung funktioniert, doch den Mut nicht hat, diese weiterzuentwickeln. Jegliches Kochhandwerk bringt wenig, wenn man seine Zutaten nicht kenne. Kochen ist viel mehr. Stefan Wiesner verbindet Alchemie, Spagyrik, Anthroposophie, Spiritualität, Schamanismus und Philosophie. Er verwendet ausschliesslich regionale Produkte, und nicht einfach die gewöhnlichen. Er greift auch zu ungewöhnlichen Kräutern oder gar Produkten. So kocht er z.B. aus Baumrinden oder kreiert Menüs aus Stein.
Wenn er kocht, dann ist es Kunst. Wenn er spricht, dann ist es Kunst, wenn er gestaltet, dann ist es Kunst. Wenn man mit Stefan spricht und seine Geschichten rund ums Kochen anhört, dann beginnen die Töne in seinem Kopf auf die Besucher rüberzuschwappen und so entsteht beim Zuhörer eine unglaubliche Lust aufs Essen und Kochen. Die Bilder im Kopf regen den Speichel im Mund an und die Lust auf Essen wird geweckt.

Der Hexer, getrieben von seiner Kunst in sich, braucht jedoch zwischendurch auch mal einen Burger aus dem McDonald. Er steht dazu, dass er nicht perfekt ist und die Weisheit auch nicht nur mit dem Löffel isst. Und genau dies ist es, was ihn menschlich sein lässt, auch wenn man spürt, dass diese Balance seine grösste Herausforderung im Leben ist. Doch diese Balance und Abwechslung sind es vielleicht auch, die ihn dorthin gebracht haben, wo er heute steht.

FB: Du sagst, dass die Gastronomie verloren hat

SW: Ja, wir sind einer der grösste Arbeitgeber, doch ca. 20 Jahre hinterher. Wir haben nicht mal das Molekulare anerkannt. In der gehobenen Gastronomie ab 13 Gault Millau kommt dies eigentlich einfach zum Zuge. Doch diese hat sich vor 10 Jahre wieder verabschiedet. Es wird immer noch nicht offiziell unterrichtet. Wenn junge Leute ihren Weg nicht weiter gehen können, dann geht es nicht in die Zukunft und es kann keine Veränderung und Weiterentwicklung stattfinden. Wer nicht mit der Zeit geht, bleibt stehen. Das gleiche mit den Preisen, diese haben stagniert.

FB: Was meinst Du mit stagniert?

SW: Jeder Handwerker verdient mindestens 100.- in der Stunde. Als Gastronom ist man weit davon entfernt. Die Preise sind überall gestiegen, doch das Mittagsmenu soll immer noch 20.-, der Kaffee 3.50 kosten. Diese Rechnung geht in den meisten Fällen gar nicht mehr auf.

FB: Ist dies nicht auch ein Auswuchs der Gesellschaft?

SW: Heute ist alles schnell. Ja die Zeit hat sich verändert. Mittagessen hat keine Bedeutung mehr. Das schöne Essen verlegt sich auf den Abend. Und dort wird sich Weizen und Spreu trennen. Es wird das «Normale» geben, wo der Gast sich verpflegen möchte. Da ist der Gastronom mehr Dienstleister. Und dann gibt es diejenigen, die das Spezielle und das Erlebnis suchen.

FB: Wie wird denn die Zukunft aussehen?

SW: Es wird die Gäste geben, die Lust nach Cordon Bleu oder Wurstsalat haben. Diese Gäste wollen überall in der Schweiz etwa das gleiche Essen. Somit wird der Wirt zum Dienstleister. Dann gibt es die Gäste, die etwas Spezielles suchen und dafür auch weitere Wege in Kauf nehmen und auch bereit sind, mehr zu bezahlen. Diese Gastronomen spezialisieren sich komplett, haben eine spezielle Philosophie.

FB: Wo sind denn die Herausforderungen im Gastgewerbe?

SW: Dass wir teurer werden müssen und es trotzdem verkaufen können. Die Löhne und die Arbeitszeiten müssen angepasst werden. Viertagewoche hat sicher eine Zukunft. Ein zunehmendes und grosses Problem ist, dass die Schweizer am Sonntag nicht mehr arbeiten möchten.

FB: Du hast gestern mit jungen, angehenden Köchen gearbeitet. Ist denn die heutige Kochausbildung noch zeitgemäss?

SW: Ich denke, heute müsste ein Koch die Grundzubereitungen kennen und dann muss er in der Lehre den Mut haben, diese abzuändern resp. lernen, wie kombiniert wird. Zudem wäre es sehr wichtig, den Schwerpunkt mehr auf die Produktekenntnisse zu legen als auf sture Rezepturen. Jeder Koch sollte 60 Kräuter, 20 Pilze und 20 Bäume, Hölzer kennen. Mit diesen Produkten kann er zu spielen beginnen. Der Koch sollte kreativ viel mehr schon zu Beginn gefördert werden. Berufsbilder verändern sich, auch der Kochberuf verändert sich stetig. Ich beobachte jedoch, dass die heutigen jungen Köche sich nicht getrauen, etwas auszuprobieren. Und bis sie sich dann nach einer Lehre von den Strukturen gelöst haben, dauert es lange und das braucht wahnsinnig Kraft und Einsatz. Somit denke ich nicht, dass es wirklich zeitgemäss ist. Man müsste den Beruf viel ganzheitlicher unterrichten.

FB: Ich beobachte, dass die heutige Jugend gar nicht mehr mit Rezepten kochen möchte. Sie sehen auf Tiktok ein Menu und kochen es nach.

SW: Dieses rezeptfreie Kochen wird die Zukunft sein. Klar braucht es hie und da ein Rezept. Doch heute ist man viel freier und experimentierfreudiger als früher. Und genau das wollen die Jungen, aber auch die Gäste.

FB: Du hast keine Lernenden mehr bei dir?

SW: Nein, bei mir kann man jedoch ein Internship absolvieren. Auch Quereinsteiger. Während 3 Monaten werden sie in die Kochkunst eingeführt und lernen meine Philosophie kennen. Die ist jedoch wie eine Weiterbildung. Sie erhalten Kost und Logis, dürfen in meine Kurse, doch sie müssen mitarbeiten und werden an verschiedenen Orten eingesetzt. Dafür bezahlen sie hier im Rössli für 3 Monate 1000 Franken, Ich bin sehr glücklich darüber.

FB: Du unterrichtest auch selbst noch?

SW: Ja genau, an der FH für Kunst in Basel unterrichte ich Kochen in der ästhetischen Praxis als Kunstform. Ich bin der Einzige in Europa, der dies so weitergibt.

FB: Was bedeutet das? Kann man diese Kunst essen?

SW: Ja, sie müssen ihre Kunst essen aus Respekt gegenüber der Natur. Es sollen die Berührungspunkte zwischen Essen, Kochen, Nachhaltigkeit und Kunst aufgezeigt werden.

FB: Was ist denn für dich ein Koch?

SW: Ein Koch ist ein Vorbild, jemand, der Menschen verwöhnt und mit verschiedenen Geschmäckern auf eine Reise mitnimmt und damit Ihre Seele berührt. Ein Koch ist unglaublich viel. Darum hat ein Koch auch so viel Macht mit seinem Wirken. Er kann z.B. jemanden mit seinem Essen aufwecken, schläfrig machen, er kann anregen, er kann jemanden gesund machen oder eben krank bis hin zum Töten. Kochen verbindet, es ist eine Weltsprache. Man versteht sich mit Kochen, ohne dass man die gleiche Sprache spricht.

FB: Das sagst du auch dem Nachwuchs?

SW: Ja und dazu kommt etwas ganz Wichtiges heute für die junge Generation. Das Ansehen. Ein Koch hat schnell ein Ansehen. Er ist schnell eine Persönlichkeit und hat Zugang zu den Medien usw., schneller als ein Musiker. Das ist es ja, worauf die Jungen heutzutage speziell abfahren. Man tut heute viel für Ruhm und Ehre. Ich bin manchmal erstaunt. Da ist der Lohn dann auch zweitrangig, wenn man Ruhm mit seinem Schaffen erhalten kann. Der Sinn ist sehr wichtig.

FB: Macht dich diese Entwicklung auch nachdenklich?

SW: Ja, ein Stück weit, weil wir ja auch Gastgeber brauchen, die ein Rössli oder eine Krone weiterführen. Die bereit sind etwas zu geben und nicht nur zu nehmen.

FB: Was stört dich an der heutigen Gastronomie am meisten?

SW: Das recht sein – man wird doch so oft gefragt: «war es recht?». Was heisst «recht sein»? Die Gesellschaft erwartet von uns Gastronomen viel als selbstverständlich und dass es gratis ist. Wenn man für Wasser bezahlen muss, gibt es vielerorts einen Aufstand. Doch es braucht eine Karaffe, sie wird an den Tisch gebracht und wir bezahlen ja auch für Hahnenwasser. Darum kann ich nicht verstehen, warum es nicht auch etwas kosten darf. Aber eben, es muss recht sein…

FB: Was ist für dich das grösste Gut oder Reichtum im Leben?

SW: Es ist die Natur. Ich bedanke mich immer auch sehr bewusst bei der Natur. Aber es ist vor allem auch die Zeit. Der Stress ist heutzutage gross und niemand hat mehr Zeit. Doch es ist ein grosses Glück, Zeit zu haben. Zeit und die Liebe.

FB: Geld?

SW: Och Geld. Ich habe genügend zum Leben. Ich bin kein steinreicher Mann geworden. Doch Geld ist unwichtig, Zeit und Zufriedenheit sind, was zählt.

FB: Was hat dich geprägt?  

SW: Das Leben. Oh viel – ich hatte keinen einfachen Weg. Dies würde Bücher füllen. Die Realität hat mich ein paar Mal ziemlich fest auf den Boden geholt. Darum meine ich auch, bin ich so sehr geerdet und mit dem Boden und der Natur verbunden. Mein Weg hat mich auf eine Art demütig gemacht. Aber leider habe ich vielleicht auch manchmal einfach zu viel gearbeitet und zu wenig genossen.

FB: Und was treibt dich im Leben an?

SW: Die Kunst in mir. Und natürlich hat mich das Überleben angetrieben. Doch die Kunst ist schon in mir.

Wenn man mit Stefan über die Kunst spricht, spürt man seine Melancholie. Doch ich spüre bei jedem Satz, dass seine Worte wirklich gelebt sind und tief aus seinem Inneren kommen. Er erwähnt auch, dass er eigentlich einer der Bodenständigsten sei in der Region, doch trotzdem oft als Exot angeschaut wird. Und natürlich erstaunt es nicht, dass für ihn nicht nur das Kochen für das Gästeerlebnis eine Rolle spielt.

FB: Spielt bei dir denn nur das, was auf dem Teller ist, eine Rolle und alles andere ist «Beilage»?

SW; Bei mir gibt es ja keine Teller mehr (schmunzelt). Aber nein, ganz wichtig ist das Storytelling um das Gericht. Dies weckt unsere Emotionen. Mich erstaunt, wie emotionslos heutzutage Speisekarten geschrieben sind.

Kürbissuppe – 10

Nicht mal mehr «Franken» steht dabei. Sie sind oft lieblos. Doch zum Esserlebnis gehört auch, dass der Speichel im Munde zusammenläuft und dies geschieht, wenn man sich Essen vorstellt oder daran denkt. So viele Geschichten lassen sich mit dem Essen verbinden.

FB: Zuletzt doch auch noch eine Frage zum Service? Wie wichtig ist der Service?

SW: Sehr wichtig und er ist ja auch Teil des Gastroerlebnisses. Doch vielleicht nicht mehr so, wie wir dies ausbilden. Im Service zählt hauptsächlich die Herzlichkeit! Den Gästen ist egal, ob von links oder rechts serviert wird, doch sie wollen Herzlichkeit! Und natürlich Wissen über die Produkte. Doch dies muss man heutzutage auch Ausgelernten beibringen. Darum sind mir Persönlichkeit und Feingefühl wichtiger als Fachwissen.

Und damit beenden wir unser Gespräch. Mit den Tönen und Akkorden lässt er ganze Menus schreiben. Doch viel mehr, er inszeniert Musikstücke oder verkocht literarische Meisterwerke wie z.B. die nächsten Wochen «das Parfum» von Patrick Süsskind. Da es zu meinen Lieblingsbüchern gehört, strahlen meine Augen umso mehr. Doch wenn dann Stefan Wiesner seine Komposition erzählt, nimmt er einen auf seine eigene Kochreise mit und er hat mich mit seiner Menüreise vom ersten Moment an in eine andere Welt geführt. Man badet bei seinen Erzählungen richtig in seiner Kunst. Ein Koch, ein Familienvater, ein Lehrmeister, ein Ehemann, ein Lehrer, ein Philosoph, ein Alchemist, ein Schamane und noch viel mehr. Er ist vieles in einer Person. Sein Leben ist eine Bereicherung für nächste Generationen. Und genau dies möchte er in seinem jüngsten Projekt, welches er in einem Hotel, mit Gourmet und traditionellem Restaurant auf dem Heiligkreuz am Entwickeln ist, verbinden. Ausser Milch soll alles selbst produziert und angepflanzt werden. Eröffnet wird sein Lebensprojekt nächstes Jahr. Er möchte damit jungen Leuten etwas weitergeben. Er möchte etwas für die Zukunft bauen und sein Wissen weitergeben. Dies sieht er als seine Lebensaufgabe. Und als ich fragte, was er einem jungen Menschen raten würde, sagte er: «Man muss Verantwortung übernehmen, doch auch Verantwortung abgeben und damit Vertrauen schenken. Man muss Fehler machen, damit man weiterkommt. Doch das wichtigste ist, sich selbst und den anderen immer wieder zu verzeihen. Und noch viel wichtiger, das Leben hier und jetzt leben. Die Zukunft darf nicht zu abgeklärt sein, das blockiert die Kreativität.»

Und meine Frage, was ihn antreibt, ist auch beantwortet. Nämlich das Leben selbst, die Liebe und die Natur. Und somit würde ich behaupten: Er ist nicht einfach Hexer, nein er ist ein grosser Pionier, der der Zeit voraus ist und mit seiner Kunst Menschen verzaubert!