Über Balance, sich zentrieren

und sonstige Posen – Über Fluch und Segen – Achtung dieser Text ist nicht triggerfrei

Kennt ihr diese Gruppenfotos, auf denen Leute mit den Beinen versuchen, eine tolle Pose einzunehmen? Oft denke ich mir: Steht doch einfach hin und zwar auf eure beiden Beine. Die Wahlen waren wieder ein Musterbeispiel dafür, wie schwer es uns fällt, z.B. beim Posieren auf beiden Beinen zu stehen. Da wo es so wichtig wäre, da man sich präsentiert und die Energie der Person auf den Wähler übertragen werden sollte. Und dieses «wie ich da stehe», sagt vielleicht auch mehr über uns aus, als uns lieb wäre. Doch was so einfach klingt, borgt vielleicht mehr Hindernisse als einem lieb wäre.

Ich selbst kämpfe seit meiner Kindheit damit, auf beiden Beinen stehen zu können und «zentriert» zu sein. Ich möchte dazu eine persönliche Geschichte erzählen. Ich wurde mit einer Hüftdysplasie geboren, was bedeutet, dass mein Becken, die Sehnen, Bänder und das Gewebe im Mutterleib zu viel Beweglichkeit hatten und die Hüftpfanne und das Pfannendach missgebildet wurden. Die Beweglichkeit ist mir geblieben und begleitet mich durch mein Leben – es ist Fluch und Segen zugleich. Wahrscheinlich liegt es auf der Hand, ich kann mich gut anpassen, psychisch wie auch physisch – oft wie ein Chamäleon. Meinen Körper habe ich durch die etlichen Schmerzen und Therapien unglaublich gut kennen und spüren gelernt. Es geht stehts darum, mich zu zentrieren und dies ist nicht immer einfach – mein Becken kann bis zu 3-4 cm hin und her pendeln, was zu entsprechend ungleichen Beinlängen führt. Bei 3cm ist es auch von aussen ersichtlich durch ein Hinken. Dies ist oft eher ein Fluch als ein Segen. Doch der Segen daran ist, dass mich genau dieser Prozess des wieder «Mitten» und Zentrieren zeigte, wie man Fluch in Segen verwandeln und so den Fluch zur Stärke macht. Genau dieser Prozess fasziniert mich tagtäglich aufs Neue und macht jeden Menschen einzigartig.

Zurück zu meinem Becken und der ständigen Zentrierung – sowohl körperlich als auch sonst im Leben. Was ist denn genau der Segen daran? Ein Vorteil liegt darin, dass ich gelernt habe, wie wichtig es ist, auf beiden Beinen zu stehen. Dies gilt nicht nur physisch, sondern auch im übertragenen Sinne. Große Schritte kann ich nur machen, wenn ich mit beiden Beinen gleich kräftig „abdrücken“ kann. Eine gestärkte Mitte ist dafür unerlässlich, um die eigene Kraft und Energie spüren und einsetzen zu können. Oder auch überhaupt ankern zu können. Menschen wirken sofort anders und energievoller, wenn sie «auf beiden Beinen» stehen. Klar, man könnte sich fragen, was man damit ausstrahlen möchte. Ich zum Beispiel möchte, wenn ich für eine Sache einstehe, klar und energievoll wirken, um von der Sache zu überzeugen oder den Mut haben, etwas durchzuziehen.

Deshalb schaue ich auch oft darauf, wie Menschen dastehen und welche Energie sie ausstrahlen. Wie bewusst sie sich selbst sind in dem, was sie tun und sagen. Gerade als Frau ist dies leider oder auch zum Glück sehr wichtig. Und noch viel wichtiger: Ich habe viele Facetten des Stehens gelernt. Eine Zeitlang in meinem Leben konnte ich gar nicht stehen oder nur auf einem Bein. Die Auswirkungen auf meinen Körper und meine innere Haltung waren frappierend. Doch ich habe auch gelernt, mich stets neu zu zentrieren. So ist für mich das Leben ein ständiges „Zentrieren“ oder ein Balanceakt zwischen verschiedensten Polen.
Durch das Balancieren lernt man. So balanciere ich zwischen Fühlen und Denken. Das Fühlen der Emotionen auf den Körper bezogen. Diese beiden Balanceakte haben grösstes Wachstumspotential der eigenen Persönlichkeit. In der Fachsprache auch «Embodiment» genannt.

Ohne meinen schon früh angeeigneten Balanceakt zwischen «neben der Spur träumend» und «klar am Boden stehend» hätte ich so vieles nicht erreicht und erlebt. Darum weiss ich vielleicht auch, dass das Leben nie nur schwarz oder weiss ist. Und vor allem, dass man aus Schwächen das grösste Potential erarbeiten kann. Vielleicht kann ich dieses Thema noch verbildlichen. In vielen Sportarten ist das Zentrieren und das Bewusstsein der Mitte zentral. Erst dann fliesst die Energie richtig. Und wenn die Energie richtig fliesst, springt der Funken oder ist man im Flow. Und dies lässt einem über sich selbst hinauswachsen, wie man so sagt. Und so auch einfach im täglichen Leben. Darum sollten wir viel mehr darauf achten, dass wir mit beiden Beinen am Boden stehen und unsere Lebensenergie gegen aussen treten lassen. Denn erst dann, bin ich komplett integriert und in der Balance.